Simon Wascher
Musiker
Traditionelle europäische Tanzimprovisation

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e: k o n t a k t @ s i m o n w a s c h e r . i n f o



Vom Tellerrand der musikalischen Welt

"Die Welt - unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2009. Dies sind die Abenteuer des Stammtisch Enterprise, der mit seiner 400 Mann starken Besatzung fünf Jahre lang unterwegs ist, um fremde Welten zu erforschen, anderes Leben und andere Zivilisationen. Viele Lichtjahre entfernt dringt der Stammtisch in Galaxien vor, die nie ein Musiker zuvor gesehen hat."

Vor vielen Jahren, es muss 1988 oder 1989 gewesen sein, hab ich An Dro tanzen gelernt, unter welchen Umständen genau, kann ich heute nicht mehr sagen. Da das die Zeit war, zu der ich das erste mal auf deutsche Wochenendkurse fuhr (österreichische gab es nicht), und dort auch deutsche Folktänzer traf, würde ich vermuten ich lernte es von denen.

Es war jedenfalls vor 1990, denn das ist das Jahr in dem ich das erste Mal in der Bretagne war, auf dem Festival von Quimper bei dessen 20. Jubiläum. Der musikalische Eindruck war überwältigend. Dort sah ich dann etwas, von dem ich erkannte, das müsse wohl gemeint gewesen sein, als man mir An Dro beigebracht hatte. Was ich sah, und was ich hörte war unglaublich, atemberaubend, brüllend geil, mit Groove, Glanz und Präzision, und hatte mit dem mir beigebrachten so gut wie nichts zu tun.

Diese Erfahrung führte dazu, das ich etwa zehn Jahre lang nicht bretonisch tanzte, und dass ich seither als jemand gelte der bretonische Musik und Tänze nicht mag. Das Gegenteil ist der Fall, ich liebe diese Musik, besitze viele hervorragende CDs und geniesse es gut bretonisch zu tanzen. Eine Weile pflegte ich auch ein Repertoire einfacher bretonischer Stücke, das aber keiner hier spielt.

Ich lernte damals, dass ich zwar ausreichend qualifiziert war diese Musik zu hören, aber dass es mir an allem fehlte, sie selbst zu selbst zu machen oder mich zu ihr zu bewegen, so, dass ich es als befriedigend erlebt hätte. Nun, ich bin davon überzeugt, dass ich inzwischen sicher schon gut genug für das Vergnügen wäre, hätte ich damals beschlossen das zu lernen. Ich traue mir zu das zu sagen, da ich wenige Jahre später, in einer Tanznacht des Festivals von St. Chartier eben einen solchen Beschluss fasste: Ich wollte gut genug sein, bei jeder Session dieses Festivals (im zentralfranzösischen Stil) ein zumindest geduldeter Gast sein zu können.

Ich begann das Repertoire, den Stil, die Musiker, die Tänze zu studieren und auf Jahre hinaus tat ich wenig anderes. Ich kaufte die Tonträger und die Noten, hatte Drehleiern des Typs und in der Stimmung die dort üblich sind (Spänekorpus-Instrumente von J. N. Grandchamp und Ch. Eaton in G/C und in D/G), ich fuhr auf Kurse zu den Französischen "Meistern", ich lud sie ein in Österreich zu unterrichten und Auftritte zu spielen. Seit 1990 war ich 21 Mal in Frankreich, fast immer im Centre. Auf meine Initiative hin waren Gilles Chabenat, Julien Barbances, Jacques Lanfrachi, Nigel Eaton, Olle Geris, Cliff Stapleton, Andy Cutting, La Chavannee, Blowzabella, Moebius, Trio Violon, The Eelgrinders, ... in Österreich. Irgendwann war es dann so weit, ich wurde vom erduldeten Mitschrummer zu jemandem, zu dem man sich auch mal dazu setzt um mit zu spielen, zu jemandem, dem man sagt, dass man da und dann eine Session zu spielen gedenke. Ich traue mir zu behaupten, ich hatte den Stil erlernt. Nicht dass es nicht zu hören wäre, dass ich aus einer anderen Richtung komme, wahrscheinlich ist die hörbare Exotik sogar ein Grund dafür das Zusammenspiel zu mögen.

Dass ich heute nur noch wenig von dieser Musik mache, hat Ursachen, die weiter untern noch erörtert werden.

Vorerst genügt es mir dargestellt zu haben, wie ich lernte zentralfranzösische Musik zu machen. Für mich ist das der Weg, um Musik eines bestimmten Stiles mit guter Qualität zu machen. Es dauert, es erfordert Intensität und Freude an den Besonderheiten des Stiles, einen immer wieder erneuerten Zugang zu den Quellen. Wenn man einen Stil in einer Woche lernen könnte, könnten Alle alle Stile spielen und es gäbe keine verschiedenen Stile. Es dauert aber erheblich länger. Selbst die Meister ihres Stiles werden, auch wenn sie dies möchten, nicht in kurzer Zeit Meister eines anderen Stiles.

Was ist ein Stil?

"Stil bezeichnet eine charakteristisch ausgeprägte Art der Ausführung menschlicher Tätigkeiten" (wikipedia)

In der Musik ist Stil ist eine besondere Art zu musizieren. Die Unterschiede zu anderen Stilen begründen die Bezeichnung als eigenständiger Stil. Diese Unterschiede finden sich in allen musikalischen Bereichen, und auch in Bereichen die man eventuell als aussermusikalisch ansprechen könnte. Träger eines Stils sind soziale Gruppen von Musikern, die von einander lernen, als Lehrer und Schüler und durch gemeinsames Lernen. Die Musiker dieser sozialen Gruppen zeigen untereinander meist geografische Nähe, da der Aufwand für die Mobilität die wahrscheinlichen Sozialbeziehungen wesentlich beeinflusst, wenn auch heute weniger als früher.

Stil wird bestimmt durch Tonhöhenbehandlung, Intonation, Klangfarben, Zusammenklänge, Wahl der Oktavlage, Tempi und deren Änderungen, Rhythmik, Agogik, Rubato, Timing, Phrasierung, Klangrede, Variation, ... aber auch von den Vorstellungen, die hinter dem beobachtbaren musikalischen Geschehen stehen. Das sind Dinge wie die Auffassung davon wie Musik funktioniert, von den Beziehungen der musikalischen Elemente, davon wie musikalische Abläufe organisiert und gesteuert werden, davon, wer darin wann warum was vorgibt oder befolgt. Des weiteren geht es um das Verständnis musikalischen Geschehens und den Sinn von Musik, von der Funktion von Musik in der Welt.

Das Abgrenzen eines Stiles ist schwierig, um nicht zu sagen problematisch. Das ist allerdings kein spezielles Problem musikalischer Stile sondern ein Allgemeines der Abgrenzung von Gruppen, der Soziologie, der Sprache, der Welt. Die Beschreibung musikalischer Stile gleicht dem Erstellen geografischer Karten. Mit Ausnahme von Gipfeln und den tiefsten Punkten der Senken gibt es darin keine privilegierten Punkte, sondern nur graduelle Veränderung von Eigenschaften. Diese bilden manchmal noch besondere Linien wie etwa Wasserscheiden, meist ähneln sie aber allen Nachbarn in allen Eigenschaften. Die Geografie löst das Problem der Darstellung dieser unkonkreten Verläufe durch das Verzeichnen von in der Realität der Landschaft nicht existierenden Linien, der Höhenlinien, benachbarter Punkte gleicher Höhe. Obwohl jeder geografische Punkt irgend eine Höhe hat, gelingt es dadurch ein Bild besonderer Häufungen von Eigenschaften zu zeichnen (in dem Fall der Höhe) und zu ermöglichen Täler und Hügel, Flachland und Hochebenen zu unterscheiden. Aber auch ohne Landkarte hat der Kenner einer Landschaft ein Gefühl dafür, wo die Ebene in die Hügel übergeht oder was ein Tal ist und eine Hügelkuppe.

Auch der musikalische Stil kennt praktisch nur benachbarte Positionen und unkonkrete Verläufe zwischen diesen. Die musikalischen Elemente die den Stil bestimmen sind weit davon entfernt so gut vermessen zu sein wie die Elemente der Geografie. Die Stile allerdings existieren, so wie die Berge und Ebenen, auch ohne in Karten erfasst zu sein. Und wie man sich in einer Landschaft auch ohne Karten bewegen kann, so ist es auch möglich in musikalischen Stilen bewandert zu werden ohne die Notwendigkeit einer exakten Kartographie der Stile.

Jeder hat einen Stil

Aus der Aufzählung der musikalischen Felder, die musikalischen Stil ausmachen, geht hervor, dass ein Musizieren ohne Stil gar nicht möglich ist. Irgend eine Intonation, Rhythmik, Vorstellung vom eigenen musikalischen Tun hat jeder. Jeder ist irgendwelchen Einflüssen von aussen ausgesetzt: die Art des Instrumentes das man zufällig am Dachboden gefunden hat, die Musik die aus den Medien schallt, Zuhörerreaktionen, Tutoren, Mitmusiker. Daher liesse sich ein jeder auch einem Stil zuordnen, auch wenn er es selbst gar nicht bemerkt.

Der Stil, den man hat, ist das "Übliche", das eingeübte, selbstverständliche. Es gibt Leute, bei denen ist das "Übliche" Irish-Folk oder Tango, oder die klassische Romantik.

Fremde Welten

Als Musiker ist man es gewohnt neues zu lernen, neue Techniken, Stücke, Grooves, Harmoniefolgen - sie ergänzen und erweitern Repertoire und Möglichkeiten, den eigenen Stil.

Im Normalfall wird Musik im Ganzen geliefert und kommt aus der eigenen soziale Gruppen von Musikern, Man lernt aneinander, als Lehrer und Schüler und gemeinsam. Der Stil ist dabei wenig wichtig, er ist der Übliche und wird als bekannt vorausgesetzt und stillschweigend übernommen.

Auch an ungewöhnlichem musikalischem Material wird einfach das Übliche angewandt. Dieses gewohnte Lernen stösst auf Schwierigkeiten, sobald es mit musikalischem Material anderer Stile konfrontiert wird. Es geht gut, solange der eigene Stil Übereinstimmungen mit dem Stil zeigt aus dem die Melodie kommt, oder wenn neu hinzukommende Melodien stilistisch unspezifisch sind. Sie werden dann einfach importiert, was zu durchaus sehr schönen, aber manchmal zu mit dem Stil aus dem die Melodie übernommen wurde unvereinbaren Interpretationen führt.

Es gibt jedoch Melodien, die den Eigenheiten eines Stils optimal angepasst sind und erst durch ihre Interpretation mit diesem Stil voll erblühen. Wenn so eine Melodie mit einem anderen Stil gespielt wird, kann es passieren dass sie nicht zur Geltung kommt und sogar die Entfaltung dieses anderen Stiles hemmt.

Wenn beispielsweise der Stil den ich anwende gute Grooves für Polka und Walzer beinhaltet, können dabei aus speziellen Bourrée-Melodien schlechte Bourrées werden und oft auch schlechte Polkas oder Walzer, weil der Stil den ich anwende an den Bourrées nicht zur Geltung kommt und sogar von den Melodien gehemmt wird, da die Melodien den Grooves zuwiderlaufen. Der musikalische Effekt kann so erheblich gemindert werden.

Dies ist ja auch einer der Ausgangspunkte der Originalklang-Bewegung im Bereich der Aufführung historischer Musik: Erst die Kenntnis des richtigen Stils und der originalen Instrumente ermöglicht eine optimale Aufführung des Werks.

An die Grenzen der Anwendbarkeit des eigenen Stils stösst der Musiker heute viel eher als früher, da in unserer mobilen Mediengesellschaft praktisch alle Stile und Repertoires dieser Welt jederzeit zur Verfügung stehen. Wir können das Beste aus allen Stilen praktisch jederzeit hören. Der Wunsch, nach dem Hören dieser oft genialen Musik diese auch selbst zu machen, ist verständlich. Allerdings, nicht alle Wünsche sind erfüllbar oder es kann schwerer werden als vermutet, denn der Lernprozess dafür doch ein deutlich anderer als der "übliche".

Zum Erlernen eines Stils

Zur Erinnerung: Im Normalfall kommt Musik aus der eigenen soziale Gruppen von Musikern, der Stil ist dabei unwichtig, er ist der Übliche und wird als bekannt vorausgesetzt.

Worum geht es: um das Aneignen dessen, was einen fremden Stil ausmacht, genauer das Erweitern des eigenen Stiles in eine bestimmte Richtung.

Wichtig ist zu erkennen, dass es hier um ein qualitativ anderes Lernen geht, darum, gezielt Dinge zu erlernen von der Art, wie man sie im angestammten Stil unbewusst mitbekommen hat.

Erlernt werden soll einerseits die selbstverständliche Anwendung fremder musikalischer Ausdruckweisen: andersartiger Tonhöhenbehandlung und Intonation, fremder Klangfarben und Zusammenklänge, fremder Tempi und deren Änderungen, fremde Rhythmik und Agogik, fremdes Rubato und Timing, fremde Phrasierung, Klangrede und fremde Variation, ...

Das Ziel ist natürlich Musik zu machen, es geht also nicht um den Aufbau von Wissen über diese Ausdrucksmittel, sondern die Fähigkeit zu deren unmittelbaren, unbewussten, automatisierten Einsatz, da die bewusste Reaktionszeit ja deutlich über der Gesamtdauer der jeweiligen musikalischen Elemente liegt.

Andererseits muss aber auch Wissen aufgebaut und angewendet werden, über die mit diesem Stil verbundenen fremden Auffassungen vom Sinn der Musik und dem stileigenen Verständnis davon wie Musik funktioniert: über Tonräume und Oktavlagen, die Beziehungen der musikalischen Elemente, die Vorstellungen hinter dem beobachteten musikalischen Geschehen, davon wie musikalische Abläufe organisiert und gesteuert werden, davon, wer darin wann, warum, was vorgibt oder befolgt, von der Funktion von Musik in der Welt dieses Stiles.

Ein Problem beim Erlernen von Musik aus fremden Stilen ist der beschränkte Zugang zu den Quellen. Wenig bis nichts von dem was einen Stil ausmacht wie beispielsweise Dynamik, Phrasierung, Agogik, Tonbehandlung, Verzierungen oder Variationen steht in den Noten. Auch einzelne Tonträger sind Momentaufnahmen, Entstanden meist nicht zur Dokumentation des Stiles sondern zum Verkauf. Tonträger vermitteln auch im Idealfall nur Personal- und Band-Stile, und erst in der Zusammenschau vieler Aufnahmen Elemente eines Stils regionaler oder anderer Gruppen von Musikern.

Andere Stilmerkmale sind überhaupt nicht dokumentiert wie das einem Stil eigene Verständnis vom Funktionieren der Musik, die darin gepflegten Vorstellungen hinter dem beobachteten musikalischen Geschehen, zur Funktion von Musik. Die stileigene musikalische Organisation und die Steuermechanismen können nur im Kontakt mit den Musikern eines Stils in direkt erlernt werden.

Selbst ein Teil der existierenden Dokumentationen von Stilelementen ist schlecht geeignet bis ungeeignet zum musikalischen Lernen, da sie nicht dafür aufbereitet sind sondern für wissenschaftliche Zwecke. Ein konkretes derartiges Beispiel sind die Dokumentationen der Agogik des Landlers oder der Polska. Hier wird in moderner proportionaler Notation etwas dokumentiert von dem die stiltragenden Musiker sich auf eine völlig andere, nichtproportionale, Art eine Vorstellung machen.

Ohne die Verinnerlichung der Vorstellungswelt des Stiles, unter anderem durch die Beobachtung des breiten Spektrums individueller Interpretationen der verschiedenen stiltragenden Musiker, ohne das Beobachten und die Erfahrung mit dem gedankenfreien stilsicheren Tanzen der zu diesem Stil gehörenden Tänze, ohne die Reaktionen der Tanzenden des Stiles auf das eigene Spiel, ist es unmöglich etwa die Agogik dieser Musik auch umzusetzen.

Viele der hier geschilderten Probleme und deren Lösungen stellen relativ hohe Anforderungen an den Lernwilligen und sind nicht für jeden umsetzbar. Das ist allerdings wiederum kein spezielles Problem, sondern ein Allgemeines: nicht alles was wir können möchten lässt sich mit der vorhandenen Zeit und den den vorhandenen Mitteln vereinbaren.

Es gilt also, sich nach der Decke zu strecken und die persönlichen Ziele der Realität anzupassen. Dreiball-Jonglage lässt sich an einem Wochenende vermitteln, das Jonglieren mit fünf Bällen erfordert schon eine viel intensivere Beschäftigung mit dem Thema, und das Jonglieren mit drei laufenden Motorsägen gilt als Weltklasse und ist zur Nachahmung nicht empfohlen, da sollte man auch als geübter Dreiball-Jongleur die Finger davon lassen.

Angewandt auf das Thema des Stils ergeben sich daraus mehrere Handlungsrichtlinien.

Schlusswort

Wir leben in einer Welt des sozialen Umbruchs. Die durch geografische Nähe begründeten Bindungen werden gelockert und durch Bindungen über gemeinsame Interessen auch an weit entfernte Menschen ersetzt. Die Aufgabe, im geografischen Nahbereich Menschen mit gemeinsamen Interessen zu finden, etwa für einen Stammtisch, wird dadurch tendenziell erschwert.

Auch in der Szene sehe ich diese Tendenz zur Zeit deutlich. Europaweite Netzwerke prosperieren, und erschweren zugleich die lokale Selbstorganisation. Das ist keine Aufforderung internationale Kontakte abzubrechen, sondern zu respektieren, dass lokale Musikerkollegen andere internationale Kontakte und Vorlieben haben als man selbst und jenen mit Respekt zu begegnen die sich auf einen Stil in seiner Tiefe konzentrieren.

Simon Wascher, Wien, im November 2009


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