Meine Beschäftigung mit historischen kulturellen Praktiken die der breiten Bevölkerung zugeordnet werden, insbesondere Tanz, Lied und Vokalise, offenbart häufig enge Verbindungen zu den Kreationen des Theaters.
Lieder werden aus dem Theater heraus populär ("Wann ich in der Früh aufsteh"), Choreografien haben ihre frühesten bekannten Belege und oft auch Choreografen am Theater, für die Vokalisen der Traditionen des Alpenraumes und darüber hinaus - das sogenannte "Jodeln" - als musikalische Praxis finden sich die frühesten bekannten Quellen im Kontext der Theater.
Daher ist es sinnvoll sich mit dem Theater und seiner Bedeutung näher zu beschäftigen. Es geht mir dabei nicht darum, ob das Theater kulturelle Praktiken übernommen hat oder kreiert, sondern lediglich darum, dem Theater als Medium eine angemessenen Rang zuzuordnen.
Das Theater war bis zur Erfindung des Films, und erst recht des Fernsehens, das einzige Medium bewegter Bilder mit Ton.
Auch als Medium des Musikvortrages hatte es eine besondere Stellung, war es doch neben dem sich entwickelnden öffentlichen Konzert, das oft auch in Theatern stattfand (Beethovens 5. Sinfonie wurde im Theater an der Wien uraufgeführt), das einzige Medium in dem Musik öffentlich zum Zuhören ausgeführt wurde.
Bis zur Erfindung der mechanischen und später elektronischen Wiedergabe blieben Theater und Konzert die einzigen derartigen Medien.
(Die Sonderstellung von Musiktheater und Konzert die wir heute kennen, hat sich in dem fraglichen Zeitraum 18. und 19. Jahrhundert ja erst entwickelt: erst Gustav Mahler setzte durch, dass der Zuschauerraum der Hofoper - heute Staatsoper - verdunkelt wurde).
Charakteristisch für Theater und Konzert sind passives Zuhören und Zusehen und das wechselnde Publikum, die öffentliche Zugänglichkeit,
Heute, in einer Zeit in der es vielerelei Medien gibt deren Zweck die passive Aufnahme von bewegten Bildern und Ton ist, besteht beim rückschauenden Erkunden von mit dem Theater verbundenen Quellen die Gefahr einer Rückprojektion heutiger Vorstellungen des Theaters.
Das Theater ist heute aber etwas gänzlich anderes als seinerzeit, weil es im Bereich passives Zuhören und Zusehen nur noch ein spezialisiertes Spartenmedium ist.
Zu Zeiten als das Theater noch das einzige Medium des passive Zuhörens und Zusehens war, deckte es selbstverständlich alle Formen der passiven Unterhaltung ab, ja es war geradezu das Medium der passiven Unterhaltung.
Das Theater bot also auch all das was wir heute vom TV, Film und Streaming kennen, und glich damit viel mehr diesen Medien als dem heutigen Theater.
Passive Unterhaltung erfordert ausreichend Zeit dafür, fördert kulturelle Praktiken die sich dafür eignen, und erfordert die Zuneigung eines Publikums. Weil passive Unterhaltung den Zweck hat ein passives Publikum zu unterhalten, es also nicht zur alleinigen Freude der Akteure ausgeführt wird, erfordert es einen Interessensausgleich, meistens eine Monetarisierung, die den Akteuren jenen Vorteil bringt der sie motiviert.
Daraus folgt, dass das Theater, und damit auch die historischen Quellen die wir heute zum Theater haben, sich nach den Wünschen des Publikums orientiert.
Was das Publikum interessiert wird solange vermehrt bis Sättigung eintritt, und dann durch anderes ersetzt das zu dem Zeitpunkt an dem Ort mehr Publikum interessiert.
Eine grundsätzliche Bewertung der Inhalte des Theaters darauf ob sie Realität abbilden oder der Realitätsflucht dienen, ist also ebensowenig sinnvoll wie eine grundsätzliche Bewertung des Verhältnisses des Mediums TV zur Realität.
Grundsätzlich lasst sich nur sagen, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass im Medium eine ausserhalb des Mediums bestehende Realität abgebildet wird.
Hier gilt all das, was zum Verhältnis des Mediums Bild zur Realität, zur Quellenkritik in der Ikonografie, schon gesagt wurde.
Allerdings haben die Medien der passiven Unterhaltung Einfluss auf die Vorstellungswelten der Unterhaltenen und damit auf die von den Unterhaltenden in der Folge gelebten Realitäten.
Was in dem Unterhaltungsmedien vorgespielt wird kann in der Folge durchaus real werden.
(Abgesehen davon, dass die von den Unterhaltenen gelebte Passivität wie auch das Theater selbst auch bereits Realität sind.)