Simon Wascher
Musiker
Traditionelle europäische Tanzimprovisation

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Das Zeitalter des Zuckeressens
Vor vielen Jahren begann ich mich intensiver mit dem Leben der Menschen früher zu beschäftigen, als Massentransportmittel, Elektrizität, Wasserwerke, Kanalisation, Massenkommunikation, evidenzbasierte Medizin u.s.w. noch nicht unbeachtete Selbstverständlichkeiten waren.
Mein Interesse an der Lebensweise der Menschen vor allem in vorindustrieller Zeit war und ist ein Interesse an einfachen Lösungen für die praktischen Dinge des Lebens. Was lässt sich mit geringerem technologischen Aufwand und mit weniger Schäden an der Welt erledigen als ich es heute mache?

Dabei trieb mich auch die Frage um, womit damals Speisen und Getränke gesüsst wurden. Womit hat man früher seinen Kräutertee gesüsst? Unter den einfachen billigen Essen, von denen wir heute geneeigt sind sie dem "einfachen ländlichen Leben" zuzurechen finden sich auch süsse Hauptspeisen, begleitet oft von Kompotten, Marmeladen, Fruchtmusen und Röstern.
Jedoch, der Zuckergehalt der später Zuckerrüben genannte Futterrüben werde erst 1747 entdeckt, erst nach 1800 wurde daraus im grossem Masstab Rübenzucker gewonnen.
Rohrzucker war bekannt, aber ebenso offenbar ein Luxusartikel, verfügbar nur in geringen Mengen für sehr Wohlhabende. Ausserdem lag noch um 1800 die Weltjahresproduktion an Zucker bei weniger als einem halben Kilo pro Kopf.

Ich nahm an, irgendwie mussten Speisen und Getränke ja gesüsst worden sein. Interessant wäre also herauszufinden womit sonst gesüsst wurde.

Die heutige Weltjahresproduktion an Honig liegt bei 1.268.000 Tonnen. Selbst diese ergäbe, verteilt auf die eine Milliarde Erdbewohner von 1800 nur etwa 1,26 kg pro Kopf, in der Gegenwart ergibt das gerade einmal 150 Gramm Honig pro Erdenbürger und Jahr.
Die Weltproduktion an Ahornsirup ist vernachlässigbar klein, heute, mit grossem maschinellem Aufwand bei ca. 10.000 Tonnen, nichts womit jedermann seinen Kaffee süssen könnte, und keinesfalls genug für die Torten und Kuchen dieser Welt.

Mehlspeisen als Mahlzeiten wiederum gibts sicher schon sehr lang (Schmarrne, Schmalzgebackenes, Sterz, Aufläufe), vermutlich solange wie gekocht wird, auch Fruchtmuse und -Röster, aber die meisten davon sind ja ohne Zucker auch nicht besonders süss und ausserdem wurde viel mit tierischen Fetten gekocht (Speck, Schmalz, Grammeln).

Süsse, zumindest gezuckerte Hauptspeisen sind wohl eher eine jüngere Tradition, beziehungsweise aus den Küchen der Wohlhabenden eingewandert.
Zucker war ja bis weit ins 19. Jahrhundert hinein knapp und teuer, also eher nichts fürs Arme-Leute-Essen.
Wohl erst in jüngerer Zeit dann, als Zucker billiger wurde, wurden wohl billige Essen wie Schmarrne, Schmalzgebackenes, Sterz, Aufläufe u.s.w. sozusagen aufgezuckert.

Vor dem 19. Jahrhundert waren gesüsste Speisen, die es grundsätzlich sicher schon sehr lang gibt, Zeichen des Wohlstands oder Festtagsessen, Krapfen, Kuchen, süsse Suppen zum Beispiel.

Die Idee, Süsse Hauptspeisen als sparsame Arme-Leute-Essen einzuordnen ist sicher neueren Datums. Dabei mag die Kirche und ihre spezielle Auffassung von Fasten eine besondere Position haben: Eine Möglichkeit, als doch im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung eher wohlhabender Pfarrer oder Klosterangehöriger, gut zu essen wenn Fleisch verboten ist. Wenn wir aus Kochbüchern erfahren, dass schon 1550 Süsspeisen zubereitet wurden sagt das doch nichts aus über die allgemeinen Ernährungsgewohnheiten damals, nur Wohlhabende hatten Kochbücher.

Irgendwann hab ich aufgehört nach einem Vorgänger für Zucker zu suchen, von dem ich annahm es müsse ihn gegeben haben. Für mich persönlich löste sich das Problem mit der Zeit ohnehin ganz praktisch. Zucker und auch Honig verwende ich in meinem eigene Haushalt selbst so gut wie gar nicht mehr.

Es wurde mir klar, dass früher einfach viel weniger süss gegessen und getrunken wurde, und dass dabei vermutlich niemandem etwas gefehlt hat, weil es eben normal war, so wie es heute für mich normal ist und mir nichts fehlt, auch wenn mir gelegentliche Süsspeisen schmecken.

Zucker essen ist eine Sonderentwicklung, nicht der Normalfall.


Weiterführende Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Zucker#Daten_zur_Kulturgeschichte_des_Zuckers
https://www.zeit.de/2010/22/E-Zucker/komplettansicht
https://www.epo.de/index.php?option=com_content&view=article&id=257:dossier-kleine-geschichte-des-zuckers&catid=14&Itemid=88


Simon Wascher, Wien, im Januar 2020


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