Simon Wascher
Musiker
Traditionelle europäische Tanzimprovisation

m (Α): +43[Ο] 68I.IΟ 3Ο 7Ο 9Ο
e: mail-adresse



Vom Einfluss des Nationalismus auf die Unterscheidung der Formen des Tanzens[1]
Hauptteil  |  Grundlegende Anmerkungen  |  Anmerkungen zum Nationalismus  |  Fussnoten

Im sogenannten "Volkstanz"[2] ist eine auffällig grosse Zahl von Formen des Tanzens katalogisiert. Wenn man allerdings die Tanzausführungen[3] vergleicht, stellt sich heraus, dass ein guter Teil davon Synonyme und Varietäten sind[4].
Durch die extrem grosse Zahl katalogisierter Formen des Tanzens, von denen ein Teil aber eigentlich Synonyme und Varietäten sind, werden die tatsächlichen Verhältnisse verfälscht. Würden die Synonyme zugeordnet und die Varietäten als Solche katalogisiert so würde sich das Bild deutlich ändern. Es würde die tatsächliche Verbreitung der Formen des Tanzens und auch die Beziehungen zwischen ihnen besser erkennbar.[5] Dies würde wissenschaftliche Erkenntnis und praktisches Erlernen erleichtern.
Es gibt allerdings noch einen zweiten, wesentlichen Grund die Synonyme und Varietäten endlich zuzuordnen: Eine wesentliche Ursache für die bisherige Katalogisierung der Synonyme und Varietäten als unterschiedliche Formen des Tanzens hat ihre Wurzeln in der Ideologie des Nationalismus.[6] Durch die weitere Verwendung dieser nationalistisch geprägten Katalogisierung und ihrer Darstellung werden, wenn auch nicht beabsichtigt, nationalistische Werteordnungen weitergegeben.
Nationalismus ist eine Ideologie der Ungleichheit. Sie basiert darauf, Menschen Rechte abzusprechen in dem behauptet wird, dass sie nicht dazugehören, und sie daher auszugrenzen. Dazu instrumentalisiert der Nationalismus[7] das Vorrecht des Zuerstgekommenen[8]. Die Dokumentation der früheren örtlichen Etablierung ist dazu ein zentrales Mittel. Als unterstützendes Argument wird die Einheitlichkeit innerhalb regionaler und staatlicher Kulturen wie auch die Unterschiede zwischen örtlichen Kulturen behauptet und deren Unvereinbarkeit. Als Lösung für Konflikte wird im Nationalismus vorgeschlagen, jeder solle dort bleiben wo er immer schon war und dort mit seinesgleichen leben, dies würde Konflikte vermeiden, so die Ur-Idee des Nationalstaates.

Die Anwendung nationalistischer Ideologie erfolgte auf verschiedene Art. So suggeriert die Katalogisierung ein und desselben Form des Tanzens und ihrer Varietäten in verschiedenen Staaten und Regionen als unterschiedliche Formen des Tanzens, dass es tatsächlich staatsweise und regionenweise überwiegend bis ausschliesslich unterschiedliche Formen des Tanzens gäbe, mithin also eine unterschiedliche Kultur, so wie es der Nationalismus mit seinem Konzept der Einheit von "Volk", Sprache, Kultur und Staat postuliert.[9]
Die Kataloge der Formen des Tanzens wurden mit den Begriffen "Volk", Sprache, Kultur und Staat verknüpft. Der Staaten- und regionenübergreifende Charakter der Tanzkulturen wird dadurch verschleiert.
Weiters wurde, um die mehrfache Einordnung als unterschiedliche Formen des Tanzens zu rechtfertigen, bei der Sammlung und Definition darauf geachtet jeweils die sich am stärksten unterscheidenden der beobachteten Tanzausführungen zum Standard eines "Tanzes" zu machen, die Dokumentation der Übereinstimmungen wurde vernachlässigt.
Damit verbunden ist eine Vernachlässigung der Dokumentation der Bandbreiten individuellen Tanzens innerhalb sozialer Gruppen und regionaler Untersuchungsgebiete: Da von einer regional einheitlichen Kultur ausgegangen wurde, erschien es wenig bedeutsam danach zu forschen. Durch diesen Mangel wird verschleiert, dass die Bandbreiten individuellen Tanzens innerhalb sozialer Gruppen und regionaler Untersuchungsgebiete so breit sein können, dass die Unterscheidung vom individuellen Tanzen anderer sozialer Gruppen und regionaler Untersuchungsgebiete kaum mehr möglich erscheint und für die tänzerischen Praxis nicht relevant ist.


Grundlegende Anmerkungen

Wer über etwas redet oder schreibt, braucht dazu Begriffe und deren Namen.[10] Ein eigener Begriff für eine Sache ist nur sinnvoll wenn sich die Sache von anderen Sachen unterscheidet.[11]
Die Unterscheidungen, die die Begriffe erst rechtfertigen, umfassen allerdings meist nicht den gesamten Begriff, sondern Teile davon - die Begriffe stimmen in Teilen überein. Beispielsweise besteht der Begriff "Gewitter" aus der Kombination von "Blitz" "Donner" "Wolken". Ein "Gewitter" ohne "Blitz" oder "Donner" oder "Wolken" gibt es nicht. "Regen" und "Wind" können Teil von "Gewitter" sein, sind aber alleine vorkommend etwas Anderes. "Wolke" wiederum nur in Kombination mit "Blitz" zu betrachten stellt die Gesamtheit des Begriffes "Wolke" nicht dar. Wenn man also von den übereinstimmenden Teilen zweier Begriffe spricht, spielt die, für den gesamten Begriff geltende, Unterscheidung möglicherweise keine Rolle.
Weiters ist jeder Begriff und sein Name unter bestimmten Voraussetzungen entstanden, so kann es sein, dass diese Unterschiede für die Betrachtung unter anderen Voraussetzungen keine Rolle spielen.
Da die Diskussion von Tanzausführungen[12] über Begriffe geschieht, besteht die Gefahr, die für die Begriffe notwendigen Unterscheidungen als zentral für die besprochenen Formen des Tanzens anzusehen. Möglicherweise sind diese aber nur Nachrangig für das tänzerische Erleben.
Im Gegensatz zur Definition einzelner Formen des Tanzens, für welche die getroffenen Unterscheidungen wichtig sind, können für die Betrachtung mehrerer Formen des Tanzens die Übereinstimmungen von gleicher oder sogar grösserer Bedeutung sein. Beispielsweise spielt die Tatsache, dass Formen des Tanzens in bestimmten Regionen entstanden, verbreitet oder dokumentiert sind, für den Vergleich der Formen des Tanzens keine Rolle.
Eine wissenschaftliche, von Ideologien möglichst freie Betrachtung beschreibt die Tanzausführungen, mit ihren Bandbreiten und Varietäten, den Variationen, nach den gegebenen Umständen. Eine besondere Form dieser Varietäten sind Formen des Tanzens die aus Tanzausführungen zu unterschiedlicher Musik entstehen. Da die Musik graduell oder aber auch substanziell verschieden sein kann, unterscheiden sich diese Varietäten graduell oder aber auch substanziell.
Eine eigene Taxonomie definiert dazu die Begriffe und ihrer Merkmale, ordnet eindeutige Namen zu und diesen wiederum die entsprechenden Synonyme. Ein Thesaurus stellt die Verknüpfungen zwischen den Tanzausführungen und Formen des Tanzens dar. Auch jede Taxonomie ist von einem bestimmten Zweck geleitet, für den Zweck des Erkennens gleicher Tanzausführungen ist es eine Taxonomie der Tanzausführungen nach den beobachteten Tanzbewegungen und, eventuell, den intendierten Tanzbewegungen.[13]

Anmerkungen zum Nationalismus

Im wesentlichen folgt der Nationalismus dem Eisenbahnabteil-Prinzip: Recht hat, wer zuerst im Abteil sitzt, die später zugestiegenen Fahrgäste haben sich unterzuordnen. Das Eisenbahnabteil-Prinzip erscheint auf den ersten Blick vernünftig, es ist aber eine unrichtige, oft missbräuchliche Anwendung, also eine Instrumentalisierung, eines Rechtsprinzips aus einer anderen Situation: der Warteschlange. In der Warteschlange hat der zuerst Kommende etwas geleistet, und zwar Wartezeit investiert. Der später kommende hat weniger investiert. Im Eisenbahnabteil hat der zuerst Zugestiegene nicht mehr investiert als der später Zusteigende, die bereits längere Reisezeit ist keine Investition auf zukünftige Bedienung wie in der Warteschlange, sondern eine bereits länger andauernde "Bedienung". Die Rechte beider Reisenden sind gleich, man muss sich arrangieren.

Fussnoten

1 "Tanz": Hier eine Tanzausführung die von vielen verschiedenen Tanzenden bei vielen Gelegenheiten gleich getanzt wird.

2 "Volkstanz": in diesem Text ein "Tanz" der irgendwo in auf dieser Welt in einer Publikation Volkstanz genannt wird. Eine nähere inhaltliche Erörterung würde den Rahmen sprengen, Vergleiche auch meine Tanz-Definitionen (http://simonwascher.info/tanz-definitionen.htm).

3 Eine Tanzausführung bezeichnet hier die Gesamtheit der Tanz-Bewegungsfolgen, vom Tanzbeginn bei Einsetzen der Musik bis deren Ende oder dem bewussten Wechsel ("jetzt tanze ich etwas Anderes") zu anderen Tanz-Bewegungsfolgen.

4 siehe: Grundlegende Anmerkungen im Anhang.

5 Ein Beispiel aus einem anderen Sachbereich ist die Taxonomie in der Biologie. Zuerst entstanden vielerlei Trivialnamen für Pflanzen und Tiere, im Zuge der wissenschaftlichen Zusammenschau wurde es notwendig die Bezeichnungen zu vereinheitlichen.

6 Eine andere wesentliche Ursache liegt in der Art wie Erkenntnis entsteht: punktuelle Einzelerkenntnisse werden erhoben und erhalten punktuelle Bezeichnungen, erst mit der Zeit entsteht ein dichtes Netz an Einzelerkenntnissen die nun eine Zusammenordnung ermöglichen, die punktuellen Bezeichnungen erweisen sich als Synonyme.

7 siehe: Anmerkungen zum Nationalismus im Anhang.

8 Das Vorrecht des Zuerstgekommenen, umfassend etwa das Recht auf Eigentum in seiner Gesamtheit und Vielfältigkeit, seine Berechtigung und seine Instrumentalisierungen können in dieser Betrachtung nicht erörtert werden.

9 Tatsächlich wird in in der Tanz-Praxis unter anderem mit der Behauptung von Regionalität argumentiert, um sachliche Übereinstimmung auszuargumentieren.

10 "Begriff" bezeichnet hier eine Sache, ein Vorgang, eine Einheit, also der Auffassung nach zusammengehörige Einzelwahrnehmungen (die jede für sich auch Begriffe sein können). Der jeweilige "Name" ist das Wort für den "Begriff".

11 Wichtig ist hier der Bezug zum konkreten Kontext: Solange ich nur mit Menschen Kontakt habe die von "Marillen" sprechen ist das Wissen um die Synonymität von "Aprikose" und "Marille" unerheblich.

12 das gilt natürlich nicht nur für das Tanzen

13 Eine Darstellung der historischen Entwicklung, eines Stammbaumes der Tanzausführungen wird in den meisten Fällen am Mangel an konkreten historischen Belegen für die Verknüpfung scheitern.

Simon Wascher, Wien, 6. Oktober '12.

Copyright © Simon Wascher - Wien