Simon Wascher
Musiker
Traditionelle europäische Tanzimprovisation

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Tanz: Systematik eines Kontinuums - Die Unterscheidung des Ähnlichen.
Vortrag, gehalten bei einem Symposium der Bundesarbeitsgemeinschaft österreichscher Volkstanz am 30. März 2019
Das Tanzen lässt sich verschieden systematisieren, etwa nach

  • Ausführenden, Quellen und deren Verortung („Herkunft“)
  • Zwecken („Funktion“)
  • Musik, Art, Stil der Musik („Musik“)
  • Bezeichungen[Anmerkung 1]
  • Morphologie („Bewegungen“, „Aufstellung“)

  • Musik und Funktion können mit den Ausführenden und Quellen wechseln und tun das auch. Um das Tanzen verschiedener Herkunft oder Funktion, zu verschiedenen Musiken oder Bezeichnungen vergleichen zu können, ist es notwendig es einheitlich nach den Bewegungen zu katalogisieren.
    Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich daher mit den beobachtbaren Bewegungen beim Tanzen.[Anmerkung 2] In den Wissenschaften, so der Sportwissenschaft, wird dafür das Wort Morphologie verwendet im Sinne von: Lehre von der äußerlich wahrnehmbaren Form oder Gestalt eines Sachverhaltes und seines Wandels.[Einzelnachweis 1]
    Beim Tanzen - nicht nur in Europa - lassen sich überall ähnliche Bewegungen beobachten. Sehr verbreitet enthalten sie folgende morphologische Merkmale:

    Gruppierung (minimal erforderliche)
  • alleine
  • zu zweit
  • mit einer anderen vorgegebenen Anzahl Personen
  • mit einer beliebigen Anzahl Personen
  • alleine in einer Gruppe Anderer
  • zu zweit in einer Gruppe Anderer
  • mit einer anderen vorgegebenen Anzahl Personen in einer Gruppe Anderer
  • mehrere Gruppen[Anmerkung 3]

  • Tanzflächenokkupation
  • Ausschliesslich („Solo“)
  • Nebeneinander

  • Körperkontakt[Anmerkung 4]
  • ohne Körperkontakt
  • mit Kontakt an den Händen
  • mit Kontakt an den Armen
  • mit Kontakt am Körper
  • Anderes (z. B. an den Beinen)

  • Rotation[Anmerkung 5]
  • ohne Rotation
  • mit Rotation der Einzelnen um sich selbst
  • mit Rotation um ein gemeinsames Zentrum
  • Gebundene Rotation
  • mit addierten[Anmerkung 6] Rotationen

  • Raumweg[Anmerkung 7]
  • ohne Raumweg
  • mit festgelegtem Raumweg
  • mit schweifendem Raumweg

  • Raumsektor
  • Am Platz ("im Slot", stationär)[Anmerkung 8]
  • Schweifend[Anmerkung 9]
  • Mit Tanzrichtung[Anmerkung 10]

  • Schritte
  • ohne Schrittvorgabe
  • mit gleichdauernden Schritten
  • mit ungleichdauernden Schritten
  • ohne Vorgabe zur Weite der Schritte
  • mit gleich weiten Schritten
  • mit ungleich weiten Schritten

  • Vertikal-Bewegungen
  • ohne
  • hoch-tief
  • tief-hoch
  • schrittbezogen
  • schlagbezogen
  • taktbezogen
  • andere

  • Symetrie
  • mit Punktsymetrie
  • mit Spiegelsymetrie

  • Musik
  • Schlag und Bewegung sind synchron
  • Metrum und Bewegung sind synchron
  • Form und Bewegung sind synchron
  • andere rhythmische Ebene und Bewegung sind synchron
  • andere musikalische Ebene und Bewegung sind synchron

  • Melodie und Bewegung sind synchron (im Einklang mit den Bewegungen)

  • Schlag und Bewegung kontrastieren
  • Metrum und Bewegung kontrastieren
  • Form und Bewegung kontrastieren
  • andere rhythmische Ebene und Bewegung kontrastieren

  • Musik begleitet die Bewegung ohne konkreten Bezug
  • Tanzen ohne Musik

  • Auch die meisten der Tänze die in Österreich dokumentiert sind, und jene Gruppe von Tänzen die von der Volkstanzpflege in Österreich ausgeübt werden nutzen diese morphologischen Merkmale. Alle diese morphologischen Merkmale können kombiniert werden.

  • Die Kombinationen dieser morphologischen Merkmale können während des Tanzens beibehalten werden
  • Die Kombinationen dieser morphologischen Merkmale können während des Tanzens gewechselt werden

  • Es ergibt sich also, noch ohne dass weitere morphologische Merkmale wie

  • Blickrichtung,
  • Schrittausführung,
  • Haltung,
  • Geschwindigkeit oder
  • konkrete Musik
  • Geschlechterrolle (Gender)
  • Zielpersonen (für sich selbst/für Andere)

  • konkret festgelegt werden, eine unübersehbare Vielfalt von Möglichkeiten. Da die morphologischen Merkmale auch einzeln ausgetauscht werden können, ergeben sich unendlich viele einander sehr ähnlicher Kombinationen. Das Wort Kontinuum beschreibt diese Vielfalt der Ähnlichkeiten gut.
    Ein Kontinuum bezeichnet etwas was ununterbrochen (lückenlos) aufeinanderfolgt. In der Dialektologie wird unter einem Dialektkontinuum eine Kette von Dialekten verstanden, innerhalb derer sich nach innersprachlichen strukturellen Kriterien keine eindeutigen Grenzen ziehen lassen, da zumindest zwei geographisch oder sozial benachbarte Dialekte jeweils gegenseitig verständlich sind.[Einzelnachweis 2]
    Für den Tanz erscheint es mir sinnvoll analog dazu vom Tanzkontinuum zu sprechen, da Tanzausführungen möglich sind die sich beliebig ähnlich zwischen den benannten Arten zu Tanzen einfügen. Tanzkontinuum bezieht sich nicht auf geografische Nachbarschaften sondern die morphologische Nähe, die Ähnlichkeit von Bewegungen. Für jede Art zu Tanzen ergibt sich im Kontinuum ein Umfeld von morphologisch beliebig ähnlicher Arten zu Tanzen.
    Das Gegenkonzept zu einem Kontinuum wären die Annahme diskreter Werte, also in diesem Fall, dass zwischen den möglichen Arten zu Tanzen Lücken bestehen würden, die davon herrühren, dass dazwischenliegende Arten zu Tanzen nicht möglich oder zumindest in den Quellen nicht belegbar wären.
    Das ist jedoch nicht der Fall, vielmehr ist es so, dass bereits die individuelle Verschiedenheit der bobachteten individuellen Ausführungen einzelner benannter Arten zu Tanzen so gross ist, dass es dadurch zu Überschneidungen kommt, die diese Arten zu Tanzen zu einem Kontinuum verschmelzen.
    Einen Stammbaum zu erstellen der Zusammenhänge der Tradierung, Abstammung widerspiegeln könnte schliesst sich aus zwei Gründen aus.

  • Es fehlt die dazu notwendige historische Dokumentation entsprechender Übergänge.
  • Es gibt keine „Artgrenzen“, jedes morphologische Merkmal kann jederzeit durch ein anderes ersetzt oder ergänzt werden oder wegfallen.

  • Eine Systematik morphologischer Merkmale kann von jedem der aufgelisteten morphologischen Merkmale ausgehen, ist also weitestgehend nicht hierarchisch. Ein Tanz, der eben noch mit Handfassen ausgeführt wurde, kann im nächsten Moment ohne Anfassen wiederholt werden oder umgekehrt.
    Eine hierarchische Systematik, die ja davon ausgehen muss durch Unterscheidung unvereinbarer Merkmale Bereiche abzugrenzen, stösst aus diesem Grund auf kaum lösbare Schwierigkeiten.
    Für die tänzerische Praxis sind gewisse morphologische Merkmale relevanter als andere. So ist es sinnvoll vor Beginn des Tanzens zu wissen mit wem, mit wie vielen man tanzen wird.
    Allerdings würde eine Systematik, die ja eine über die praktische Tätigkeit hinausweisende Zusammenschau ermöglichen soll, wesentliche morphologische Ähnlichkeiten verschleiern, wenn sie die Anzahl der Beteiligten an ihre Spitze stellt und dadurch andere morphologische Merkmale trennt.
    Bisherige, historische Versuche der Systematisierung gingen notwendigerweise von den vorhandenen Möglichkeiten aus. Mehrdimensionale, sich nach Bedarf neu ordnende Katalogisierungen, wie sie heute durch Datenbanken und Hypertext möglich sind, standen nicht zur Verfügung. Heute bestehen diese Beschränkungen nicht mehr.
    Eine moderne Systematik tut also gut daran, keine festgelegte Hierarchie zu bestimmen, sondern die morphologischen Merkmale zu katalogisieren - nicht jedoch zu Kategorisieren - um eine, dem jeweiligen Zweck folgende, wechselnde Darstellung zu ermöglichen.
    Dazu gehört auch die Möglichkeit die Komplexität, also die Anzahl der morphologischen Merkmale und die Anzahl der Wechsel der morphologischen Merkmale, zu bestimmen.
    Auch kann bei ausreichend genauer Katalogisierung angegeben werden durch wie viele unterschiedliche morphologische Merkmale sich zwei Arten zu Tanzen unterscheiden oder auch wie viele morphologische Merkmale sie teilen.
    Weil Sprache für das Abschauen von Tanzbewegungen die gefallen keine Rolle spielt, können Tanzbewegungen problemlos über Sprachgrenzen hinweg in das eigene Tanzen integriert werden, sind sehr beweglich. Weil die einzelnen morphologischen Merkmale so fundamental sind, sind sie in praktisch allen Traditionsschulen vorhanden.
    Inwieweit in einzelnen Traditionsschulen bestimmte morphologische Merkmale oder Kombinationen überdurchschnittlich oft vorkommen oder fehlen und inwieweit diese Traditionsschulen bestimmbaren geografischen Gebieten zuordenbar sind, liesse sich erst an einem vollständigen Katalog morphologischer Merkmale in Tanzaufzeichnungen erkennen, welcher jedoch noch nicht zur Verfügung steht.
    Jedoch würde auch eine signifikante Häufung eines morphologischen Merkmals in einer Traditionsschule lediglich eine Wahrscheinlichkeit dafür angeben, dass eine konkrete Tanzausführung dieser Traditionsschule zuordenbar ist, aber keine Gewissheit.

    Simon Wascher, Wien, im März 2019


    Copyright © Simon Wascher - Wien

    Anmerkungen

    1 Jede intensivere Beschäftigung mit der Materie ergibt, dass Bezeichnungen willkürlich und zufällig sind. Eine Art zu tanzen heisst einmal so und einmal so. Ein schönes Beispiel dafür kann man bei Ilka Peter lesen: „Der Eiswalzer heisst so nach einer Melodie die früher dazu gespielt wurde.“ Der Name hat also nichts mit der Art zu tanzen zu tun, die anderswo auch anders heisst. Tänze werden zu vielerlei Musik ausgeführt, die erste Melodie die heute zum Volkstanz „Eiswalzer“ gespielt wird ist dem Walzer „Abendsterne“ von Josef Lanner entnommen, vielleicht auch einem melodiegleichen Lied, die Zweite teilt er mit dem Lied vom „Brunnstangl“. Weder das Salonorchester Lanners noch das Lied vorgetragen in der Art der wiener Volkssänger werden stilistisch typisch für die Ausführung von Musik zum „Volkstanz“ angesehen. Hier zeigt sich auch die Bedeutungslosigkeit kleinräumiger geografischer Zuordnungen, die Tanzaufzeichnung ist aus Salzburg, die Musik wurde in Wien verfasst, und sie steht - dort in moll - auch in der Handschrift des August Karlsson in Schweden. Die Unterlagen der heutigen Volkstanzpflege wie auch die Tanzfolgen ihrer Feste enthalten eine Vielzahl von Tanznamen für eine grosse Anzahl von unterschiedenen Tänzen. In anderen Traditionsschulen wird mit wenigen Tanznamen das Auslangen gefunden. Der Unterschied beruht zu grossen Teilen auf den Entscheidungen der jeweiligen Proponenten darüber was als zentral dafür angesehen wird etwas einen Tanz zu nennen, ist also kontextabhängig und nicht allgemeingültig.

    2 Die Unterscheidung zwischen beobachteten und intendierten Bewegungen ist wichtig. Intention und Bewegung können sich schon bei den Tanzenden selbst unterscheiden, die Sicht der Beobachtenden ist eine weitere Trennschicht. Insbesondere wenn das Tanzen nicht an den Beobachter gerichtet ist (nicht Performativ ist). Man denke insbesondere auch an das Tanzen zu Musik mit ungleichlangen Schlägen, die von den Ausführenden als dreischlägig angesehen werden kann und von einem aussenstehenden Beobachter eventuell nicht.

    3 Zum Beispiel bei Kontratänzen, wo mehrere Gruppen von zum Beispiel drei Paaren miteinander tanzen.

    4 „Kontakt“ Verwende ich weil „Anfassen“ die Beteiligung einer Hand impliziert, das ist aber nicht immer der Fall.

    5 Rotation bezeichnet hier alle kumulierten Veränderungen der Ausrichtung von Körperfront, Blick- und Fussrichtung. Tanzen findet praktisch immer auf begrenzten Flächen statt. Um diese bei raumgreifenden Bewegungen auf Dauer nicht zu verlassen ist es notwendig sich auf die eine oder andere Art rundherum (im Kreis) oder hin und her (wie bei Longways) zu bewegen. Wenn sich dabei die Ausrichtung von Körperfront, Blick- und Fussrichtung ändert findet dabei eine Rotation statt. Auch wenn im allgemeinen Bewegungen entlang einer ausreichend grossen Kurve nicht als Rotation wahrgenommen werden, haben diese versteckten Rotationen durchaus Auswirkungen auf die Tanzausführung, zum Beispiel auf den Fusssatz.

    6 Rotationen rotierender Bewegungen. Beispiel: Wenn man sich um sich selbst dreht und sich dabei entlang eines Kreises bewegt, addieren sich die Rotationen. Wenn man sich also genau ein Mal nach rechts um sich selbst dreht während man einen Kreis nach links ganz abschreitet, so ist die Blickrichtung unveränderlich: die Rotationen heben sich auf, es findet keine Rotation statt.

    7 Mit „Raumweg“ bezeichne ich Bewegungen die Tanzende vom Platz weg bewegen ohne Berücksichtigung von Rotation.

    8 Wenn der Raumsektor, den ein Tanzpaar oder eine ganze Gruppe von Tanzenden betanzt, sich über die Dauer der gesamten Tanzausführung (Musiklänge) nicht über die Tanzfläche verschiebt.

    9 Wenn der Raumsektor, den ein Tanzpaar oder eine ganze Gruppe von Tanzenden betanzt, sich über die Dauer der gesamten Tanzausführung (Musiklänge) über die Tanzfläche verschiebt, aber ohne dass alle Räume der einzelnen Tanzpaare oder Gruppen von Tanzenden sich in eine gemeinsame Richtung bewegen.

    10 Wenn die betanzten Raumsektoren aller einzelnen Tanzpaare oder eine ganzen Gruppen von Tanzenden sich über die Dauer der gesamten Tanzausführung (Musiklänge) jeweils in eine gemeinsame Richtung bewegen. Zu Tanzrichtung siehe auch mein Kleines Glossar zum Begriff "Tanzrichtung"




    Einzelnachweise

    1 Norbert Olivier, Ulrike Rockmann: Grundlagen der Bewegungswissenschaft und -lehre. Hofmann, Schorndorf 2003, S. 73. Zit. nach: Wikipedia: Morphologie (Sportwissenschaft). Besucht am 12. Februar 2019.

    2 Wikipedia: Dialektkontinuum. Besucht am 12. Februar 2019.